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Die Alpen werden unruhig

01.03.2005 / Martin Grosjean
In den Alpen macht sich der Klimawandel besonders bemerkbar. Es wird schneller warm als im Rest Europas und der Welt, die Folgen sind häufigere extreme Wetterereignisse und rutschende Hänge. Zudem muss sich der Wintertourismus umstellen, da der Schnee sich zunehmend rar macht.
Auf der Alpennordseite stiegen im 20. Jh. die Temperaturen doppelt so stark wie auf der Erde im Mittel: 1.1°C verglichen mit 0.6°C. Auch die Niederschlagswerte haben sich verändert, in einigen Regionen der Alpen hat es im Winter deutlich mehr Niederschlag gegeben, immer häufiger in Form von Regen.
Die Gründe für die besondere Erwärmung der Alpen sind nicht eindeutig geklärt. In Frage kommen Änderungen der Grosswetterlagen und Änderungen der Beschaffenheit der Bodenoberfläche, wenn durch die Erwärmung helle Schnee- und Eisflächen im Alpenraum zunehmend durch dunkle Gras- und Felsflächen ersetzt werden und somit die Reflexion der Sonneneinstrahlung an der Erdoberfläche abnimmt.
Eines ist klar: Die Alpen sind ein hochempfindlicher Raum.

Der Berg gerät in Bewegung

Forscher rechnen damit, dass extreme Wetterereignisse wie Orkane, Föhnstürme und sehr starke Regenfälle in den nächsten Jahren auch in den Alpen intensiver auftreten werden. Ausserdem wird sich die Unwettersaison sowohl in den Spätwinter als auch in den Spätherbst ausdehnen.
Insgesamt werden vor allem die Winterniederschläge um bis zu einem Drittel zunehmen und mehrheitlich als Regen fallen. Den Berg ins Rutschen bringen wird auch der Rückgang des Permafrostes (Dauerfrostboden), der sich in der Folge steigender Temperaturen in immer höhere Lagen zurückzieht. Derzeit liegt die Permafrostuntergrenze bei ca. 2600 Metern, 150 bis 200 Meter höher als noch vor 100 Jahren.
In den letzten Jahren gab es einige grosse Fels- und Bergstürze, die Forscher auf tauende Böden zurückführen. Ein Vorgeschmack auf die Zukunft.

Die Gletscher verschwinden

Zwischen 1850 und 1980 haben die Gletscher in den Alpen ungefähr ein Drittel ihrer Fläche verloren und die Hälfte ihrer Masse. Seit 1980 sind weitere 20 bis 30 Prozent geschmolzen. Im extremen Sommer 2003 haben die alpinen Gletscher nochmals 10 Prozent eingebüsst. In niedrigen Lagen werden die Gletscher wohl ganz verschwinden und es gilt als wahrscheinlich, dass bis 2035 die Hälfte und bis 2050 drei Viertel aller Gletscher der Schweizer Alpen nicht mehr da sein werden.
Verregnete Wintersaison

Die Klimaerwärmung hat auch gravierende Folgen für den Wintersport. Als "schneesicher" wird ein Schweizer Skigebiet bezeichnet, wenn in mindestens 7 von 10 Wintern in der Zeit vom 1. Dezember bis zum 15. April an mindestens 100 Tagen eine für den alpinen Skisport ausreichende Schneedecke von mindestens 30 bis 50 cm vorhanden ist. Mit dieser Definition können heute 85 Prozent der Skigebiete als schneesicher bezeichnet werden. Die Grenze für Schneesicherheit liegt derzeit bei 1200-1300 Metern.
Bis 2050 werden wahrscheinlich nur Skigebiete oberhalb von 1500-1600 m schneesicher sein. Bei einem Anstieg der Untergrenze der Schneesicherheit auf 1500 m wären nur noch 63 Prozent der Skigebiete in der Schweiz schneesicher, bei einem Anstieg auf 1800 m nur noch 44 Prozent. Die künstliche Beschneiung bietet auch nicht immer eine Lösung wie z.B. im Dezember 2004, als es einfach zu warm war. Zudem ist Kunstschnee mit hohem Energieaufwand und Wasserverbrauch verbunden. Skiorte sollten sich also beizeiten nach Alternativen umschauen, wollen sie langfristig überleben.
Die Klimaforschung hat dazu in den letzten Jahren genügend Grundlagen geliefert, die Botschaft ist klar und das Thema "Schnee und Klimaänderungen" ist für die Forschung nun weitgehend ausgereizt. Genauere Abklärungen für bestimmte Standorte wären zwar machbar, setzen aber die Kooperation der Branche und einzelner Betriebe auf der betriebswirtschaftlichen Ebene voraus. Doch die Branche mauert, das haben entsprechende Kontakte im Herbst 2004 in der Schweiz ergeben. Auch Kreditgeber zur Finanzierung von Investitionen geben sich gelassen: "Der Markt wird das alleine regeln" meinte ein Vertreter einer Schweizerischen Grossbank auf Anfrage.
Die schweizerische Industriegeschichte liefert uns genügend Beispiele, die anschaulich zeigen wie der Markt die Strukturbereinigung einzelner Branchen alleine regelt.

Leben mit dem Risiko

Die Tatsache, dass die Klimaerwärmung für die Alpen ein erhöhtes Risiko in Form von Überschwemmungen, Stürmen, Bergstürzen und Muren mit sich bringt, zwingt die Gemeinden im Alpenraum, ihre Raumplanung optimal den objektiven Gefahrenzonen anzupassen und Schutzmassnahmen zu ergreifen. Die sehr kostspieligen Dämme, Verbauungen, Schutzwälder, Galerien und Steinschlagnetze müssen unterhalten und gezielt ausgeweitet werden, um bereits bestehende Infrastruktur zu schützen. Der Spielraum dazu ist sehr klein, wir haben keine andere Wahl.
Noch sind die Versicherungen in der Lage, aus dem Solidaritätsgedanken heraus auch im Alpenraum Risiken zu günstigen Prämien abzudecken. Ob das in Zukunft auch so sein wird, hängt von der Kostenentwicklung und unter anderem davon ab, ob raumplanerische Massnahmen kompromisslos umgesetzt, Gefahrenkarten für Bauzonen und teure Infrastruktur zukünftig konsequent respektiert werden, Einzelinteressen zu Gunsten der Gemeinschaft zurückgesteckt werden, und so letztlich die Kosten für Schäden im Rahmen gehalten werden können. Das steht in der Verantwortung der Gemeinden. Planerische Fehlentwicklungen, die aus einem falschen Verständnis von Demokratie und unreflektiertem Wachstumsglauben entstehen, wird der Markt selbst korrigieren, wohl verspätet aber dafür mit brutaler Härte und hohen Kosten. Daran besteht kein Zweifel.
Um das zur Zeit Undenkbare auszusprechen: Was passiert, wenn Versicherungen die Prämien für Schäden durch Überschwemmungen oder Massen- und Bodenbewegungen nach den effektiven Risiken abstufen, d.h. im Mittelland generell günstig, im Alpenraum und entlang von Flüssen und Seen sehr teuer? Was passiert, wenn private Hauseigentümer, Investoren oder sogar Pensionskassen Immobilien in bestimmten gefährdeten Gebieten nicht mehr versichern können und sich plötzlich mit einem hohen ungedeckten Risiko konfrontiert sehen? Das ist im Moment laut gedacht. Diese Logik folgt letztlich aber der Tatsache, dass es ausgerechnet die Rückversicherungsgesellschaften und Internationale Finanzinstitutionen sind, die sich an vorderster Front beunruhigt zeigen und Alarm schlagen (UNEP Financial Initiative 2002). Dies aus harten, weitsichtigen wirtschaftlichen Überlegungen für die Branche, nicht aus ökologischer Sentimentalität.
Die Politik hat noch nicht gemerkt, dass sie das auch etwas angeht und sie weitgehend in der Verantwortung steckt: Klimapolitik dauert länger als eine Legislatur, erfordert Weitsicht, den Blick für das Ganze und kann mit Partikularinteressen nicht vereinbart werden. Dies gilt es der Bevölkerung zu vermitteln.

Komplexes System Klima

Das Klima der Erde ist ein komplexes System, in dem sehr viele Einzelteile miteinander verbunden sind. Komplexe Systeme reagieren sehr empfindlich und oft sprunghaft schon auf kleinste, kaum spürbare Veränderungen einzelner Teilsysteme. Klimaänderungen haben verschiedene regional sehr unterschiedliche Gesichter und Auswirkungen. Sie treten an verschiedenen Orten auf der Welt in unterschiedlicher Ausprägung und auch zu unterschiedlichen Jahreszeiten auf. Zusammen mit der hohen natürlichen Variabilität der Klimas und der Tatsache, dass erst seit relativ kurzer Zeit Klimadaten erhoben werden, macht das den Nachweis von Klimaänderungen und das Aufspüren der Ursachen schwierig.

Die Antriebsfaktoren: Sonne, Vulkane und der Mensch

Auf der Zeitskala von Jahren bis mehreren Jahrhunderten werden Änderungen im Klimasystem vor allem durch die Antriebsfaktoren Sonnenaktivität, grosse Vulkaneruptionen und die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre ausgelöst und bestimmt. Während die Sonnenaktivität und Vulkaneruptionen nicht menschengemacht sind, tragen die Änderungen der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre vor allem seit dem 20. Jahrhundert die Handschrift des Menschen. Die menschlichen Emissionen seit der Industrialisierung haben zu der höchsten Konzentration von CO2 in der Atmosphäre seit mindestens 420'000 Jahren geführt.

Prof. Dr. Martin Grosjean
NFS Klima
Universität Bern
www.nccr-climate.unibe.ch/